63. — Der Grund der Menschwerdung Gottes
[GEJ 6.63.1] (Der Herr:) „Erschaffen ist leicht; aber die aus sich hinausgestellten Geschöpfe zu einem freien, ungerichteten und selbständigen Sein hinleiten, das ist selbst für die göttliche Allmacht keine leichte Sache. Doch mit Geduld und Langmut kann man am Ende dennoch alles erreichen, und ist eine Sache in bestzwecklicher Hinsicht einmal erreicht, da gedenkt man nicht mehr der Zeit, die zur Erreichung vonnöten war.
[GEJ 6.63.2] Es geht uns da wie einem schwangeren Weibe, das auch in seiner Schwangerschaft viel Furcht, Angst und Wehen zu bestehen hat; aber wenn das Kind aus dem Weibe in der gewissen Zeit zur Welt geboren worden ist, dann hat bei dem Weibe alle Furcht und Angst aufgehört, und es gedenkt nicht mehr der Wehen und Schmerzen, denn es sieht vor sich die lebendige Frucht, die aus ihm in ein freies und selbständiges Leben hervorgegangen ist.
[GEJ 6.63.3] Wäre es aber mit der freiesten Selbständigmachung eines Geschöpfes eine leichter zu bewerkstelligende Sache, da hätte Ich als der Schöpfer aller Dinge und alles Seins wahrlich nicht nötig gehabt, nun Selbst als ein Mensch in diese Welt zu kommen, um die möglich vollendetste Freigestaltung des Menschen durch Lehre und Tat zu bewerkstelligen.
[GEJ 6.63.4] Wenn euch das jemand anders gesagt hätte, so würdet ihr zu ihm gesagt haben: ,Mensch, was faselst du, und welch einen Unsinn redest du da durcheinander!‘ Ich Selbst aber sage euch hier solches, und so möget ihr es wohl glauben, daß es also ist; denn um einer Kleinigkeit willen hätte Ich nimmer das Fleisch dieser Welt, und sogar seinen Tod, angezogen und ginge nicht mit euch, Meinen Geschöpfen, wie ein rechter Vater mit seinen Kindern um.
[GEJ 6.63.5] Ihr saget nun wohl bei euch, das sei wohl nun höchst wahr, aber warum geschehe solches denn gerade jetzt, und was sei da mit der ganzen schon verflossenen Zeitenewigkeit, in der Gott ebenso endlos vollkommen bestand wie eben jetzt, – was sei mit jenen Geschöpfen geschehen, die diese gegenwärtige Lebensvollendung nicht haben erreichen können, indem Ich zuvor niemals einen fleischlichen Leib gleich einem geschaffenen Menschen angenommen habe.
[GEJ 6.63.6] Ja, Meine Lieben, das ist eine gar gewichtige Frage! Aber zum Teile habe Ich sie vor euch, Meinen alten Jüngern, beim alten Markus zu Cäsarea Philippi schon erörtert, und ihr wisset davon noch so manches; aber ihr wisset noch nicht völlig, warum aus der unendlichen Zeitendauer gerade diese Periode genommen ward, um den Menschengeschöpfen von nun an die volle Gottähnlichkeit für ewighin zu geben.
[GEJ 6.63.7] Sehet, mit der ganzen, endlos großen Schöpfung beachtet Gott sowohl der Zeit als dem Raume nach stets ein und dieselbe allerweiseste Ordnung! Sollte es Gott denn etwa unmöglich sein, einen Menschen mit aller Weisheit und Kraft ohne eine Zeugung und ohne einen Mutterleib zu erschaffen, gleichwie es Ihm möglich ist, im Augenblicke den Blitz aus der Luft zu rufen?! Ganz sicher nicht, und Ich Selbst habe euch dafür die hinreichendsten Beweise gegeben!
[GEJ 6.63.8] Wenn aber Gott das möglich ist, warum läßt Er es denn zu, daß der Mensch erst in einen weiblichen Leib eingezeugt werden, dann im selben von Periode zu Periode und von Teil zu Teil wachsen und sich ausbilden muß? Ist er im Mutterleibe in der ziemlich geraumen Zeit ausgereift, so kommt er zur mühseligen Ausgeburt, wo ihm noch gar vieles an den Leibesteilen mangelt. Nach und nach ergänzen sich diese stets mehr und mehr; die Zunge wird beugsamer und fängt an, Worte zu lallen, die Organe kommen in eine stets größere Ordnung, und die kräftiger und mündiger werdende Seele kann sich ihrer mehr und mehr bedienen, und so geht das von Stufe zu Stufe auf- und vorwärts so lange hin, bis der Mensch, etwa nach dreißig bis vierzig Jahren, als ein kräftiger und erfahrungsreicher, verstandesvoller Mann dasteht. Alle Kenntnisse und Erfahrungen hat er sich durch eigene Mühe und Tätigkeit aneignen müssen, damit er seinen Nebenmenschen als ein nützlicher Mitbürger wert und achtbar sein kann. Ja, aber warum das alles mit dem Menschen, wenn Gott allmächtig ist und sogleich ohne Geburt und Erziehung völlig weise und kräftige Menschen aus der Luft oder gar aus nichts herstellen kann?
[GEJ 6.63.9] Das kann Gott allerdings; aber was wären solche Menschen? Ich sage es euch: nichts als Maschinen, die nie einen eigenen, freien Willen, nie ein eigenes, selbstisches Bewußtsein und nie eine selbständige, freie Tätigkeit weder im Denken noch im Fühlen und Handeln haben könnten, sondern Gottes allmächtiger Wille müßte sie in jedem Augenblicke aus Sich neu beleben, in ihnen Selbst denken und wollen und ihre Glieder zu irgendeiner Tätigkeit anregen und anziehen. Würde aber Gott das nicht tun, so wäre so ein Mensch dann offenbar völlig tot und müßte auch augenblicklich aus dem Dasein gänzlich verschwinden.
[GEJ 6.63.10] Damit aber der einmal geschaffene Mensch wie aus sich frei fortbestehe, sich selbst ausbilde und festige, dann wie aus eigener Kraft frei werde im Denken, Wollen und Handeln, so ward von Gott schon von Ewigkeit eine Ordnung gestellt, derzufolge die einmal aus Gott hinausgestellten Ideen sich selbst nach und nach stets mehr und mehr von Gott isolieren müssen, endlich sich als ein von Gott getrenntes Sein und Leben gewisserart finden und fühlen müssen und nach ihren eigenen Gedanken frei wollend und frei tätig zu werden haben, auf daß sie dadurch als vollends lebensgefestet dann durch äußere Lehre von Gott als selbst werdende Götter geführt und zur Lebensvollendung wie auf eigenem Grund und Boden gebracht werden können.
[GEJ 6.63.11] Dazu aber bedarf es einer sehr langen Zeit, die von Gott aus wohl berechnet und in gar viele Perioden eingeteilt ist, in denen dies und jenes Fortschreitende vorgenommen werden kann.
[GEJ 6.63.12] Wie aber bei jedem ganz ordentlich sich fortbildenden Menschen einmal der Moment eintreffen muß, in dem er zur Aufnahme für höhere Weisheit befähigt wird, so ist nun dieser Moment für die ganze Schöpfung vor euren Augen, von Gott wohlberechnet, gekommen, durch den nun allen gereiften Geschöpfen die Gelegenheit geboten wird, aus ihren alten Gerichtsgräbern zur vollen Gottähnlichkeit überzugehen, und es heißt darum auch in der Schrift, daß nun alle, die in den Gräbern waren und noch sind, die Stimme des Menschensohnes hören werden und, so sie aus sich reif geworden sind, hervorgehen aus eigener Kraft zum ewigen, wahren und völlig gottähnlichen Leben.
[GEJ 6.63.13] Und weil dieser von Gott schon von Ewigkeit her wohl und klar berechnete Moment eben jetzt gekommen ist, in welchem alle Geschöpfe die gewisse ganz selbständige Reife erlangt haben, die sich wahrlich am meisten dadurch erkennen läßt, daß die meisten von Gott beinahe nichts mehr wissen und von Gott vollends isoliert sind, so bin Ich als Gott denn auch da, um die Menschen nicht mehr durch Meine Allmacht zu führen, sondern allein durch die Lehre, die Ich ihnen nun also gebe, als wäre Ich Selbst nichts mehr und nichts anderes denn sie selbst.
[GEJ 6.63.14] Ich kann nun als eine Person mit ihnen wie ein Fremder mit einem Fremden verkehren, und der alte Grund hat nun völlig aufgehört, demzufolge niemand Gott schauen könne und dabei behalten das Leben. Nun könnet ihr Mich anschauen, wie ihr wollt, und behaltet dennoch unversehrt euer Leben!“